ZU JOHANN FRIEDRICH REICHARDT |
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Zu Johann Friedrich Reichardt berichtet The New Grove Dictionary of Music and Musicians [2001] in Band 21, dass Reichardts Vater Johann (1720 - 1780) zur letzten Generation ausgezeichneter Lautenspieler gehörte und dass sein am 25. November 1752 in Königsberg geborener Sohn Johann Friedrich durch ihn Geigenunterricht erhielt und sich darauf schnell zum Wunderkind entwickelte, aber auch ein guter Lautenspieler und Sänger unter ihm wurde. Etwa vom Alter von 10 Jahren an habe er sich in Ostpreußen als reisender Violinist und Klavierspieler hervorgetan. Unter seinen frühen Lehrern seien auch J.F. Hartknoch (ein junger Musiker aus Riga), ein Königsberger Musiker namens Krüger, der Organist C.G. Richter, der Reichardt mit der Musik C.P.E. Bachs und J.S. Bachs bekanntmachte, und der Violinist F.A. Veichtner, ein Schüler Franz Bendas, gewesen. Jedoch ist es laut Grove all diesen Lehrern nicht gelungen, Reichardt alle Apsekte der Komposition beizubringen, so dass er in manchen Bereichen der Kompositionstechnik immer behindert gewesen sei.
Reichardts Schulbildung sei ähnlich zerstückelt gewesen, berichtet Grove, obwohl er von seinen intellektuellen Gaben guten Gebrauch machte und im Haus von Graf und Gräfin Keyserling fast wie ein eigener Sohn aufgenommen worden sei. Im Alter von 15 Jahren schrieb er sich laut Grove mit einigen Schwierikgeiten an der Universität Königsberg ein, wo er für drei Jahre ein wenig bemerkenswertes Studentenleben geführt habe. Jedoch sei es seiner eigenen Aussage nach Kants Einfluss gewesen, der es ihm ermöglicht habe, den gewöhnlichen, erniedrigenden Pfad zu vermeiden, den die meisten Künstler der Zeit einschlugen.
Wie andere junge Künstler seiner Zeit habe Reichardt seine Laufbahn mit Reisejahren begonnen. Seine erste Reise habe er im Frühjahr 1771 mit einer Tournee durch Norddeutschland begonnen, wo er J.A.P. Schulz, Ramler, Friedrich Nicolai, Franz Benda, J.A. Hiller, J.G. Naumann, C.P.E. Bach, Lessing, Klopstock, und Matthias Claudius kennenlernte. Dabei soll er sich zweimal länger in Berlin aufgehalten haben, wo er an der im Abstieg befindlichen Berliner Oper Opern von Graun und Hasse hörte, kurz unter Kirnberger studierte und tief von Händels Musik beeindruckt wurde. In Leipzig habe er kurz an der Universität studiert, dies jedoch bald aufgegeben, Hillers Konzerte besucht und sich selbst mit der Komposition von Vokalmusik und Singspielen beschäftigt. In Dresden habe er kurz unter Homilius studiert, einem ehemaligen Schüler Bachs. Im September 1774 sei er mit einigen Jugendkompositionen, einem Monogramm zur deutschen komischen Oper und weitläufigen Reiseaufzeichnungen nach Königsberg zurückgekehrt. Das Monogramm Über die deutsche comische Oper sei noch in diesem Jahr veröffentlicht worden, und seine Reiseaufzeichnungen seien 1774 und 1776 in zwei Bänden unter dem Titel Briefe eines aufmerksamen Reisenden die Musik betreffend erschienen.
Danach habe Reichardt für etwa ein Jahr einen Beamtenposten bekleidet. Im September 1775, als ihm zu Ohren kam, dass Friedrich der Große einen Kapellmeister für die Berliner Oper suchte, der J.F. Agricolas Nachfolger werden sollte, schrieb er an ihn und bot sich mutig als würdigen Nachfolger an und fügte die Partitur seiner Oper Le feste galanti, die ganz im Stil Grauns und Hasses gehalten war, bei. Gegen Ende des Jahres übernahm er den Posten in seinem 23. Jahr, wie Grove berichtet.
Obwohl es nicht seine Absicht gewesen sei, in diesem jugendlichen Nachahmungsstil weiterzumachen, habe er jedoch Opern von Graun und Hasse zu dirigieren gehabt und konnte unter der engen Aufsicht Friedrichs des Großen nur ab und zu selbst etwas hinzufügen, um alternden, unwilligen Sängern behilflich zu sein. Seine eigenen, fortschrittlicheren Kompositionen wurden ignoriert. Zur Kompensation habe er sich der Komposition dramatischer Werke zugewandt, die dem alten italienischen Stil so wenig wie möglich glichen. 1777 schrieb er laut Grove ein Melodrama mit dem Titel Cephalus und Prorkis, das für das blühende neue deutsche Theater bestimmt war, obwohl es zuerst in Hamburg aufgeführt worden sei. In seiner ersten Berliner Zeit habe er die Stadt auch oft verlassen können und verbrachte Zeit in Hamburg, Dessau, Weimar und Königsberg und heiratete 1776 Bendas Tochter Juliane. (Nach deren Tod im Jahr 1783 heiratete er jedoch schnell wieder). In diesen Jahren pflegte er seine Bekanntschaften mit solch illustren Zeitgenossen wie C.F. Nicolai, Hamann, Klopstock, Herder, Lavater, Moses Mendelssohn und Goethe. Sein Heim war laut Grove ein Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle. Als Junge sei Tieck ein Spielkamerad seines Sohnes gewesen und stark von der Atmosphäre des Reichardt'schen Haushalts beeinflusst gewesen.
Eine Reise in Opernangelegenheiten führte laut Grove im Jahr 1783 zu seiner persönlichen Bekanntschaft mit Lavater und erlaubte ihm, Galuppi in Venedig, und Gluck und Kaiser Joseph II in Wien kennenzulernen. In Italien sei er stark von den wiederentdeckten Werken Palestrinas beenflusst gewesen, und in Wien habe er der Musik des alternden Gluck zugehört. 1783 habe er auch in Berlin, Paris nachahmend, das Berliner Concert Spirituel, gegründet und dort seine eigene Musik und die von Komponisten wie Haydn und Händel vorgestellt. Ein weiterer Urlaub führte in 1785 nach England und Frankreich. In Paris habe er Aufträge für zwei Opern erhalten, Tamerlan und Panthee, musste jedoch noch im Oktober nach Berlin zurückkehren. Er erhielt jedoch weiteren Urlaub und kehrte Anfang 1786 nach Paris zurück, um dort Tamerlan fertigzuschreiben. Jedoch ergaben sich Produktionsschwierigkeiten, so dass er verstand, dass die Pariser an ihm das Interesse verloren hatten. Er ließ seinem Unmut Luft in einer an das 'musikalische Publikum' gerichtete Verurteilung, die ihm den Ruf der Arroganz eintrug.
Mit dem Tod Friedrichs des Großen im Jahr 1786 erhielt Reichardt vom neuen König, Friedrich Wilhelm II, volle Autorität als Kapellmeister, ein höheres Gehalt, und war in der Lage, neue Musiker einzustellen. Die Oper wurde renoviert, und Reichardts Werke konnten endlich aufgeführt werden. Reichardt kam auch in engeren Kontakt mit Mitgliedern des Sturm und Drang. Er arbeitete mit Goethe an dessen Singspiel Claudine von Villa Bella im Jahr 1789, der ersten deutschen Oper, die von ihrem eigenen Kapellmeister erfolgreich dem preußischen Hof vorgestellt werden konnte. Jedoch habe diese für Reichardt den Höhepunkt seiner Berliner Laufbahn bildende Ära vorzeitig ein Ende gefunden. Während eines weiteren Urlaubs im Jahr 1790, in dem er sich in Italien aufhielt, sei ein stellvertretender Kapellmeister eingestellt worden, und unter den Musikern habe Ablehnung und Eifersucht geherrscht. Anfang 1791, nach einer ernsthaften Krankheit, habe Reichardt einen Urlaub von 3 Jahren bewilligt bekommen, mit leichten Pflichten und vollem Gehalt.
Er erwarb in Giebichstein bei Halle ein Landgut und begab sich Anfang 1792 auf eine Reise durch das revolutionäre Frankreich. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er laut Grove unter dem Pseudonym 'J. Frei' ein Frankreich zugeneigtes Buch, Vetraute Briefe über Frankreich. 1794 wurde er dem König gegenüber als Republikaner denunziert und im Oktober des Jahres ohne Pension aus seinen Diensten entlassen.
Im Jahr 1796 machte er sich laut Grove auch Goethe und Schiller zu Feinden, als er deren Horen kritisierte. Dazu können wir hier aus Goethes und Schillers Briefen folgende Passagen zitieren:
"64. An Goethe
Jena, den 15. Mai 1795
. . .
Reichardt hat sich durch Hufeland zu einem Mitarbeiter an den Horen anbieten lassen. . . " [***: 64-65].
"65. An Schiller
. . .
Reichardt ist nicht abzuweisen, aber seine Zudringlichkeit werden Sie sehr in Schranken halten müssen. . . .
Weimar, den 16. Mai 1795 . . . " [Briefwechsel: 65-66].
"147. An Goethe
Jena, den 27. Januar 1796
. . .
Wir müssen Reichardt, der uns so ohne allen Grund und Schonung angreift, auch in den Horen, bitter verfolgen. . . . " [Briefwechsel: 131].
"148. An Schiller
. . .
Aus Ihrem Briefe seh ich erst, daß die Monatschriften Deutschland und Frankreich Einen Verfasser haben. Hat er sich empazipieret, so soll er dagegen mit Karnevals Gipsdrageen auf seinen Büffelrock begrüßt werden, daß man ihn für einen Perückenmacher halten soll. Wir kennen diesen falschen Freund schon lange und haben ihm bloß seine allgemeinen Unarten nachgesehen, weil er einen besondern Tribut regelmäßig abtrug; sobald er aber Miene macht, diesen zu versagen, so wollen wir ihm gleich einen Bassa von 3 brennenden Fuchsschwänzen zuschicken. Ein Dutzend Distiche sind ihm schon gewidmet, welche künftigen Mittwoch, beliebt es Gott, anlangen werden. Indessen nochmals ein Lebe wohl.
Weimar, den 30. Januar 1796 G." [Briefwechsel: 132-133].
"149. An Goethe
Jena, den 31. Januar 1796
. . .
Daß Reichardt der Herausgeber des Journals Deutschland ist, darauf können Sie sich verlassen; sowie auch darauf, daß er sich (oder doch der Rezensent, welches uns hier ganz Eins ist) gegen die Unterhaltungen sehr viel herausnimmt, obgleich er Sie bei andern Veranlassungen in der nämlichen Rezension mit vollen Backen lobt. Das Produkt ist unendlich miserabel. . . . " [***: 133].
"151. An Goethe
Jena, den 5. Februar 1796
. . . Reichardt ist gut rekommandiert, aber er muß es noch mehr werden. Man muß ihn auch als Musiker angreifen, weil es doch auch da nicht so ganz richtig ist, und es ist billig, daß er auch bis in seine letzte Festung hinein verfolgt wird, da er uns auf unserem legitimen Boden den Krieg machte. . . . " [Briefwechsel: 135].
"168. An Goethe
Jena, den 17. Juni 1796
Die Antwort auf ihren lieben Brief verschieb ich bis Montag und melde Ihnen hiermit bloß, daß wir heut abend Voß erwarten, der sich schon durch ein Brieflein angekündigt hat. Er kann nur Einen Tag bleiben, reist Sonntag mit dem frühesten wieder fort und kommt nicht nach Weimar.
Sie hätte er gerne gewünscht, hier zu treffen. Es steht also bei Ihnen, ob Sie ihm dieses Vergnügen machen wollen, wozu wir Sie freundlichst einladen. Er kommt von Giebichstein und bringt hoffentlich auch noch Reichardten mit -- eine Szene, vorauf ich mich beinahe freute. Leben Sie recht wohl. Sch." [Briefwechsel: 146].
"169. An Schiller
Es tut mir recht leid, daß ich Voß nicht sehe; gute persönliche Verhältnisse sollte man ja nicht versäumen, von Zeit zu Zeit durch die Gegenwart wieder zu erneuern. . . .
Grüßen Sie Voßen recht sehr und erneuern auch in meinem Namen ein Verhältnis, das seiner Natur nach immer besser werden kann.
Sollten noch andere Gäste, wie ich nicht hoffe, gegenwärtig sein, so will ich für dieselben gleich ein Gastgeschenk eingelegt haben:
Komm nur von Giebichstein, von Malepartus! Du bist doch Reineke nicht, du bist doch nur halb Bär und halb Wolf. . . .
Weimar, den 18. Juni 1796" [Briefwechsel: 147].
"171. An Goethe
Jena, den 20. Juni 1796
Voß ist doch nicht gekommen; er schrieb nur kurz, daß unangenehme Störer die Reise rückgängig machten. Es tut mir wirklich leid, seine persönliche Bekanntschaft nicht gemacht zu haben, indessen wäre sie mit einem sehr unangenehmen Auftritt erkauft worden, weil Reichardt, wie ich heute von Hallischen Fremden erfuhr, ihn wirklich hat begleiten wollen. Die unvermeidliche Grobheit, die ich gegen diesen Gast hätte beweisen müssen, würde Voßen in große Verlegenheit gesetzt und wahrscheinlich ganz und gar verstimmt haben. . . " [***: 149].
"172. An Schiller
. . .
Daß Voß nicht gekommen ist, gefällt mir nicht an ihm, besonders da Sie sich, wie ich erst aus Ihrem Briefe sehe, noch einander nicht persönlich kennen. Es ist das eine Art von Schluderei und Unattention, deren man sich wohl in jüngern Jahren leider schuldig macht, von der man sich aber, wenn man einmal Menschen schätzen lernt, so sehr als möglich hüten sollte. Am Ende hat ihn doch Reichardt abgehalten, denn daß diesem bei seinem Halbverhältnis zu uns nicht wohl sein kann, ist nur zu deutlich. . . . " [Briefwechsel: 150].
"202. An Goethe
Jena, 31. Juli 1796
Sie können sich von den Xenien nicht [so] ungern trennen, als ich selbst. . . .
Ihren Namen nenne ich sparsam. Selbst bei denjenigen politischen, welche niemand angreifen, und vor welchen man sich gefreut haben würde, ihn zu finden, habe ich ihn weggelassen, weil man diese mit den andern, auf Reichardt gehenden, in Verbindung vermuten könnte. . . . " [Briefwechsel: 194].
"203. An Goethe
Nach langem Hin- und Herüberschwanken kommt jedes Ding doch endlich in seine ordentliche waagrechte Lage. Die erste Idee der Xenien war eigentlich eine fröhliche Posse, ein Schabernack, auf den Moment berechnet und war auch so ganz recht.
. . . Auch die Hiebe auf Reichardt wollen wir unter dem Haufen zerstreuen und nicht, wie erst geschehen war, an die Spitze stellen. Von der einen Seite war die Ehre und von der andern die Beleidigung zu groß, die wir ihm durch diese Auszeichnung antäten. . . .
Leben Sie recht wohl. Sch.
Jena, den 1. August 1796" [Briefwechsel: 196-197].
"226. An Goethe
Jena, 16. Oktober 1796
. . .
Sie müssen doch das neue Stück vom Journal Deutschland lesen. Das Insekt hat das Stechen wieder nicht lassen können. Wirklich, wir sollten es noch zu Tode hetzen, sonst ist keine Ruhe vor ihm. . . . " [Briefwechsel: 216-217].
"229. An Schiller
. . .
Den Spitz von Giebichstein müssen wir nun eine Weile bellen lassen, bis wir ihn einmal wieder tüchtig treffen. Überhaupt aber sind alle Oppositionsmänner, die sich aufs Negieren legen und gern dem, was ist, etwas abrupfen möchten, wie jene Bewegungsleugner zu behandeln: man muß nur unablässig vor ihren Augen gelassen auf und ab gehen.
. . .
Weimar, den 19ten Oktober 1796 . . . " [Briefwechsel: 218-219].
"236. An Goethe
Jena, 28. Oktober 1796
. . .
Was Sie aber belustigen wird, ist ein Artikel in dem neuen Leipziger Intelligenz-Blatt, welches in Folio herauskommt. Hier hat ein ehrlicher Anonymus sich der Horen gegen Reichardt angenommen. Zwar sind beide nicht genannt, aber unverkenbar bezeichnet. Er rügt es sehr scharf, daß dieser Herausgeber von 2 Journalen das erste in dem andern unverschämt lobe, und gegen ein andres Journal einen schändlichen Neid blicken lasse. Vor jetzt wolle er es bei desem Winke bewenden lassen, aber er droht, ihm hart zu Leib zu rücken, wenn dieser Wink nichts fruchte. . . . " [Briefwechsel: 225-226].
[Hierzu ein Auszug aus den Anmerkungen zur Briefausgabe, S. 940: "Artikel in dem neuen Leipziger Intelligenzblat: Ein 'XY' unterzeichneter Beitrag 'Über einige neue Charlatanerien unserer Literatur' im 'Allgemeinen literarischen Anzeiger oder Annalen der gesamten Literatur für die geschwinde Bekanntmachung verschiedener Nachrichten auf dem Gebiete der Gelehrsamkeit und Kunst' (Nr. 26, 1796), der die Schriften und Aufsätze 'eines Herder, Schiller u.a.' den Charlatanerien 'eines Mannes' gegenüberstellt, der 'zwei Journale zugleich' schreibt, um die 'eigenen Schriften und Journalaufsätze' loben, andere aber herabsetzen zu können"].
"239. An Goethe
Jena, den 2.[3].] November 1796
Nur einen kleinen Gruß für heute. Humboldt ist gestern angekommen, er empfiehlt sich Ihnen aufs beste und freut sich gar sehr auf Sie. Er ist wohl und heiter, seine Frau aber, die schwanger ist, befindet sich nicht zum besten. Wenig hätte gefehlt, so wäre er mit Reichardt hier angekommen; er hat ihm nur durch List entgehen können. Reichardt wird in 14 Tagen hier sein; wie er sagt, um Friedrich Schlegeln von hier weg nach Giebichenstein zu nehmen. Das heiß ich recht vom Teufel geholt werden . . . . " [Briefwechsel: 228].
"264. An Goethe
. . .
Reichardt hat sich nun geregt, und gerade so, wie ich erwartet hatte, er will es bloß mit mir zu tun haben und Sie zwingen, sein Freund zu scheinen. Da er sich auf dieses Trennungssystem ganz verläßt, so scheint mirs nötig, ihn gerade durch die unzertrennliche Vereinigung zu Boden zu schlagen. Ignorieren darf ich seinen insolenten Angriff nicht, wie Sie selber sehen werden; die Replique muß schnell und entscheidend sein. Ich sende Ihnen hier das Konzept, ob es Ihnen so recht ist. . . .
. . .
[Jena, den] 25. Dezember 1796" [Briefwechsel: 252].
[Hierzu ein Auszug aus den Anmerkungen der Briefausgabe, S. 943: "Johann Friedrich Reichardt, welcher in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Deutschland" (Berlin 1796, 4. Band, 10. Stück, S. 83 bis 106) Schiller für ehrlos erklärt: "Ehrlos ist jeder Lügner: Zweifach aber der Feigherzige, der sich und die Beziehungen seiner Injurien nicht einmal ganz zu nennen wagt" und alle "wackren Männer" werden "den Mann, der sich ehrloser Lügen schuldig macht, so sehr verachten, als wäre er gerichtlich beschimpft"].
"265. An Schiller
[Weimar, den 27. Dezember 1796.
Ihr Paket erhalte ich zu einer Zeit, da ich so äußerst zerstreut bin, daß ich weder die Sache, wie sie verdient, überdenken, noch darüber etwas beschließen kann. Lassen Sie mich also nur vorläufig eine ohngefähre Meinung sagen und übereilen Sie nichts. Der Gegner hat sich zu seiner Replik alle Zeit genommen, lassen Sie uns ja, da uns kein Termin zwingt, den Vorteil der reifsten Überlegung nicht leidenschaftlich aus der Hand geben. Sie ist um desto nötiger, als die Sache prosaisch verhandelt werden soll, und das erste Wort ist von der größten Bedeutung. Meo voto müßte unsere Prosa so ästhetisch als möglich sein, ein rednerischer, juristischer, sophistischer Spaß, der durch seine Freiheit und Übersicht der Sache wieder an die Xenien selbst erinnerte. Ihr Aufsatz scheint mir zu ernsthaft und zu gutmütig. Sie steigen freiwillig auf den Kampfplatz, der dem Gegner bequem ist, Sie kontestieren litem und lassen sich ein, ohne von den Exceptionen Gebrauch zu machen, die so schön bei der Hand liegen. Flüchtig betrachtet sehe ich die Sache so an:
Ein ungenannter Herausgeber von zwei Journalen greift einen genannten Herausgeber von einem Journal und einem Almanach deshalb an, daß er in einigen Gedichten verleumdet und als Mensch angegriffen worden sei.
Nach meiner Meinung muß man ihn bei dieser Gelegenheit aus seinem bequemen Halbincognito heraustreiben und zuerst von ihm verlangen, daß er sich auf seinen Journalen nenne, damit man doch auch seinen Gegner kennen lerne, zweitens, daß er die Gedichte wieder abdrucken lasse, die er auf sich zieht, damit man wisse, wovon die Rede sei und worüber gestritten wird. Diese beiden Präliminarfragen müssen erst erörtert sein, ehe man sich einläßt, sie inkommodieren den Gegner aufs äußerste, und er mag sich benehmen, wie er will, so hat man Gelegenheit, ihn zu persiflieren, die Sache wird lustig, die Zeit wird gewonnen, es erscheinen gelegentlich noch mehrere Gegner, denen man immer lieber etwas abgeben kann, das Publikum wird gleichgültig, und wir sind in jedem Sinne im Vorteil.
Ich finde auf der Reise gewiß so viel Humor und Zeit, um einen solchen Aufsatz zu versuchen, da wir Freunde haben, die sich für uns interessieren, so lassen Sie uns nicht unberaten zu Werke gehen. . . . " [Briefwechsel: 253-254].
"268. An Goethe
. . .
Die Reichardtische Sache habe ich mir diese Zeit über aus dem Sinn geschlagen, weil ich mich darin mit Freuden in Ihren Rat begeben will. Sie überfiel mich in einer zu engen Zimmerluft, und alles, was zu mir kommt, muß noch dazu beitragen, mir diese Widrigkeiten noch lastender zu machen. . .
. . .
Jena, 11. Januar 1797 Sch." [Briefwechsel: 256-257].
"271. An Schiller
. . .
Der versprochene Aufsatz ist so reif, daß ich ihn in einer Stunde diktieren könnte, ich muß aber notwendig vorher mit Ihnen noch über die Sache sprechen, und ich werde um so mehr eilen, bald wieder bei Ihnen zu sein. . . " [Briefwechsel: 259].
Grove berichtet weiter, dass Reichardt von Ende 1794 bis zur Thronbesteigung Friedrich WIlhelms III im Jahr 1797 in Hamburg und Giebichstein lebte und dort die Zeitschriften Frankreich und Deutschland herausgab. 1796 sei er zum Leiter der Halleschen Salzbergwerke ernannt worden; dies war ein Posten, der ihm Zeit gelassen habe, seine eigenen Interessen zu pflegen. Giebichstein habe sich zu einer "Herberge der Romantik" entwickelt, die von Intellektuellen wie von Arnim, den Gebrüdern Grimm, Jean Paul, Schleiermacher, Novalis, Schlegel und Voss besucht worden sei. Grove bezeichnet es auch als Zentrum des intellektuellen Republikanismus, der Lieder, der romantischen Dichtung, des Volksliedes und der Volkskunst.
Als im Jahr 1806 Napoleons Truppen Teile Preußens besetzt hielten, fährt Grove fort, hätten diese auch Halle und Giebichstein besetzt gehalten, so dass Reichardt und seine Familie nach Norddeutschland flohen und im Oktober 1807 zurückkehrte und ihr Landgut in Ruinen vorfand. Innerhalb einiger Monate sei der nun verarmte Reichardt von Napoleons Bruder Jerome Bonaparte (dem neuernannten König von Westfalen) nach Kassel als Directeur general des theatres et de son orchestre berufen worden. Der Berufene habe jedoch seinen Dienst mit wenig Begeisterung versehen, so dass er sich im Herbst 1808 wieder auf die Reise gemacht habe, allem Anschein nach, um in Wien Musiker für Kassel zu engagieren. Grove berichtet jedoch, dass sein neuer Dienstherr ihn nicht sehr schätzte und diesen Posten -- letztendlich vergeblich -- Beethoven anbot. Reichardt, der sich seit November 1808 in Wien aufhielt, habe dort seine alten Bekanntschaften wieder aufgeknüpft und sich als berühmten Musiker behandeln lassen. Aus dieser Zeit stamme sein wichtigstes Reisetagebuch, das als Vertraute Briefe geschrieben auf einer Reise nach Wien zur Veröffentlichung gelangt sei. Nach seiner Rückkehr nach Giebichstein im Jahr 1809 hatte er sich und seine Familie bis 1811 von seinem Talent als Journalist und Komponist zu ernähren, bis er eine kleine Pension erhielt. Grove schließt seinen Lebensbericht damit, dass Reichardt noch einige Reisen unternahm, dass jedoch sein Ruhm bereits verblasst gewesen sei und dass er am 27. Juni 1814 fast in Vergessenheit starb.
Da in diesem biographischen Zusammenhang Reichardts Qualität als Komponist weniger relevant ist, soll nur noch eingeflochten werden, dass Grove seine Bedeutung als Schriftsteller und Reisender etwa gleich hoch einschätzt wie seine Bedeutung als Komponist. Während viele seiner Schriften das Schlechteste und das Beste enthalten, das in dieser Zeit zu Papier gekommen sei, müsse er trotzdem zusammen mit Burney und Forkel als Pionier des modernen Musikjournalismus genannt werden. In seinen Vertrauten Briefen aus den Jahren 1808-1809 stehe die Vergnügungssucht und die Schmeichelei so sehr im Vordergrund, dass Beethoven das Werk als "Geschmier" bezeichnet habe und auch von von Arnim, Brentano und Goethe verachtet worden sei. Werfen wir einen Blick auf den Brief, in dem Beethoven sich dazu äußert:
"Beethoven an Breitkopf & Härtel in Leipzig
[Wien, bald nach dem 4. Februar 1810][1]
. . .
. . . -- was sagen Sie zu dem Geschmier von Reichardts Briefen?[8] wovon ich zwar nur noch einzelne Bruckstücke gesehen.--"
[Quelle: Ludwig van Beethoven Briefwechsel Gesamtausgabe, Band 2, Brief Nr. 424, S. 107-108; Original: nicht bekannt, Text laut GA nach Nohl II, Nr. 54; zu [1]: verweist laut GA darauf, dass das Schreiben vermutlich kurz nach dem Brief vom 4.2.1810 verfasst worden sei; zu [8]: verweist auf Johann Friedrich Reichardt, Vertraute Briefe geschrieben auf einer Reise nach Wien und den österreichischen Staaten zu Ende 1808 und Anfang 1809, Amsterdam 1810, 2 Bde., wovon der erst Band bereits im Dezember 1809 erschien; Einzelheiten S. 108 entnommen].
(Theodor Frimmels Beitrag zu Reichardt in seinem Beethoven-Handbuch erwähnt, dass aus einer Andeutung in Reichardts Briefen hervorgehe, dass Beethoven ihn bereits früher kennengelernt hatte.)
In seiner Arbeit als Herausgeber von Zeitschriften habe sich Reichardt jedoch auf eine höhere Ebene emporgeschwungen, so dass das Musikalische Kunstmagazin immer noch als epochemachendes Werk angesehen werde und auch noch von Schumann und seiner Generation mit Interesse gelesen worden sei.
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Quellenangaben:
Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Herausgegeben von Paul Stapf. Berlin Darmstadt Wien: 1960, Deutsche Buchgemeinschaft.
Frimmel, Theodor. Beethoven-Handbuch. Zweiter Band. Pachler - Zulehner. Hildesheim/Wiesbaden: 1968, Georg Olms/Breitkopf & Härtel.
The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Second Edition. Edited by Stanley Sadie. Volume 21. London: 2001, Macmillan Publishers Limited.